Jedes Entwicklungsstadium unserer bunten Falter birgt spannende Geheimnisse. Die kunstvollen Schmetterlingseier und das staunenswerte Innenleben von Schmetterlingspuppen habe ich mit dir schon unter die Lupe genommen. Noch spannender ist das Entwicklungsstadium dazwischen. Denn „Raupe Nimmersatt“ frisst nicht nur viel. Unzählige Tierarten haben sie auch zum Fressen gern. Für den Arterhalt entwickelten Raupen deshalb eine Vielzahl an fantastischen Überlebensstrategien. Reise mit mir in die Welt von jagenden, fliegenden, amphibischen, giftigen, warnenden, täuschenden und sich tarnenden Raupen und überzeuge dich von ihrem Trickreichtum!

Wozu ist die Raupe da?

Bevor wir die Reise zu den besten Überlebenskünstlerinnen der Raupenwelt antreten, sollten wir diese Wesen und ihre Bedürfnisse jedoch erst einmal besser verstehen. Fangen wir deshalb – wie jedes Räupchen es tut – klein und bescheiden an und sprechen über Sinn und Körperbau des Raupenstadiums! Alle Insekten durchlaufen eine Metamorphose vom Ei bis zur sogenannten Imago, dem erwachsenen Insekt. Aber viele von ihnen wie Wanzen, Termiten, Schaben, Heu- oder Fangschrecken - wie die faszinierende Gottesanbeterin – kriechen beinahe als Miniaturausgabe des erwachsenden Tieres aus dem Ei. Sie wachsen und durchlaufen mit jeder Häutung nur schrittweise Veränderungen bis zur Imago. Ganz anders verläuft die Verwandlung einer kriechenden Raupe zum flatternden Falter.

Was ist der Vorteil einer solch drastischen Verwandlung und wie ermöglicht es die Natur einem Wesen, manchmal nur binnen einer Woche, zu einem optisch wie biochemisch nahezu völlig anderen Tier zu werden?

Diesen Fragen wollen wir gemeinsam nachgehen.

Fix ist: Die meisten Schmetterlingsarten ernähren sich von Nektar und damit im Wesentlichen von Zuckersaft. Diese Ernährung ist zwar energiereich, aber ziemlich einseitig. Zudem kommen die beim Nektarsaugen durch den engen Rüssel aufgenommenen Zuckermengen bei einigen Arten mehr einem Naschvorgang gleich. Falter wachsen ja auch nicht mehr. Ihre Aufgabe ist die Paarung. Nicht wenige Arten nehmen als Falter gar keine Nahrung auf und leben einzig von den Energiereserven, die sie sich als Raupe angefressen haben. Und da sind wir schon beim entscheidenden Punkt.

Zum Fressen ist die Raupe da

Raupen nutzen chemisch wie biologisch deutlich vielseitigere Pflanzennahrung. Sie sind schließlich zum Fressen und Wachsen geboren. Genau in dieser Hinsicht vollbringen sie geradezu fantastische Stoffwechselleistungen, wie es einem nektarsaugenden Falter niemals möglich wäre. Einige Raupenarten können innerhalb weniger Wochen bis zu dreitausendmal schwerer werden. Nur um diese Stoffwechselleistung einmal zu versinnbildlichen, stelle man sich ein Menschenbaby vor, das bei seiner Geburt 3 Kilogramm wiegt und nur zwei Monate später das Gewicht zweier ausgewachsener Elefanten auf die Waage bringt.

Warum ist so rasches Wachstum ein Vorteil? Vielleicht auch deshalb, weil eine Unzahl von Tieren Raupen als wertvolle Futterquelle nutzen und sie schnell in den verschiedensten Mägen landen. So betrachtet besteht das Schicksal von 95 – 99 % aller aus dem Ei schlüpfenden Raupen darin, anderen Insekten, Reptilien, Amphibien, Kleinsäugern und Vögeln eine wichtige Nahrungsgrundlage zu bieten. Nur wenige schaffen es bis zum Falter und dienen damit tatsächlich dem Arterhalt.

Auch der Körperbau der Raupe ist an ihren Hauptzweck, das Wachstum, angepasst. Der Darm ist groß und ein dominantes Organ. Sogar die Fortbewegung scheint er zu bestimmen. Denn Forscher haben festgestellt, dass es die Kontraktionen des Darmes sind, welcher die Beinpaare der Raupe in einer koordinierten Wellenbewegung in Gang setzen.
„Raupen folgen ihrem Darm“, heißt ein diesen Vorgang beschreibender Artikel.

Raupe des Eichenseidenspinners

Apropos Beine:

Nur die ersten drei Beinpaare der Brust gelten den Zoologen als „echte Beine“.

Die dahinterliegenden „Klammer- oder Bauchbeine“ sind lediglich ungegliederte Ausstülpungen des Hinterleibs.

Sie sind am Ende mit Chitinklauen oder Hakenkränzen bestückt, mit denen die Raupe sich auch bei stürmischem Wetter auf Zweigen und Blättern festzuhalten und fortzubewegen vermag.

 

Wichtig zu erwähnen sind auch die sogenannten „Stigmen“ der Raupen. Das sind kleine Atemöffnungen, die paarweise seitlich an den meisten Körpersegmenten angebracht sind. Sie münden in das Tracheensystem, welches der Raupe die lebenswichtige Sauerstoffversorgung ermöglicht.

Sehen können Raupen im Gegensatz zum Falter mit zwei Grüppchen von Punktaugen links und rechts der Kopfkapsel nur leidlich gut. Geruchs- und vor allem Geschmackssinn spielen beim Finden und Prüfen von potentieller Nahrung die wichtigere Rolle. Raupen können in der Summe eine Unzahl an Pflanzen und organischen Materialien verdauen. So fressen die Raupen des Blausiebs und des Weidenbohrers Holz, Kleidermotten fliegen auf Textilien aus Wolle oder Seide und Wachsmotten wurden sogar beim Verspeisen von Plastiksackerln beobachtet. Einige Arten wie der Schwammspinner können hunderte Pflanzen für die Ernährung nutzen. Andere sind hoch spezialisiert und fressen nur eine einzige, mitunter sehr seltene Pflanze, ohne deren Blätter sie kläglich verhungern. Auch deshalb haben es viele Falterarten inzwischen enorm schwer, in unseren ausgeräumten, überdüngten und artenarmen Kulturlandschaften zu überleben und schwinden dahin.

Dabei haben sich Raupen im Laufe der Evolution an die verschiedensten Lebensbedingungen und Klimazonen hervorragend angepasst, bis hin zur arktischen Region. Die Raupe von Gynaephora groenlandica ernährt sich von arktischer Weide, welche nur zwei bis drei Wochen im Jahr die für die Raupe essentiellen Nährstoffe bildet. So benötigt die Raupe bis zu sieben Jahre für ihre Entwicklung und überlebt im arktischen Winter Temperaturen von bis zu minus 70 Grad. Andere Raupen haben sich darauf spezialisiert, ihre nichtmenschlichen Feinde zumindest soweit auszutricksen, dass der Arterhalt gesichert bleibt. Die Vielzahl an Überlebensstrategien ist bei 180.000 beschriebenen Schmetterlingsarten so unermesslich, dass ich nur anhand weniger Arten ein kleines Blitzlicht darauf werfen kann.

Hier jedenfalls meine illustre Liste diverser Raupen-Meisterschaften:

Meister der Warnung – Raupen so laut wie Telefone

Raupen sind in der Regel stumm, aber einige – insbesondere aus der Familie der Pfauenspinner – können zirpen, bzw. diverse Klicklaute von sich geben. Beim Nordamerikanischen Seidenspinner Antheraea polyphemus erreichen diese angeblich knapp 80 Dezibel, was einem lauten Telefonklingeln entspricht. Nun mag es nicht sinnvoll erscheinen, als leckere Raupe auf sich aufmerksam zu machen. Die Klicklaute werden jedoch erst eingesetzt, wenn die ansonsten gut getarnte Raupe schon entdeckt wurde. Sie sind eine Warnung. Ignoriert der Feind dieselbe, erfolgt das Erbrechen von unappetitlichem Darminhalt.
Bei manchen Arten ist der zur Feindabwehr ausgespiene
Darminhalt mit Tensiden oder Pflanzengiften angereichert. Diese setzen die Oberflächenspannung der Flüssigkeit deutlich herab, sodass davon getroffene Feinde auch bei wasserabweisender Körperoberfläche effektiv benetzt und verklebt werden können. So müssen sich zum Beispiel „angekotzte“ Ameisen erst einmal ordentlich putzen und die Raupe hat Zeit, sich aus dem Staub zu machen.

Übrigens können auch die Raupen des heimischen Wiener Nachtpfauenauges zirpen. Andere Raupen können unbeschadet giftige Pflanzen fressen, reichern das Gift sogar im Körper an und warnen vor ihrer Ungenießbarkeit mit knallbunten Farben. So zum Beispiel die wunderschöne Raupe des Wolfsmilchschwärmers.

Meister der Tarnung - Raupen machen sich unsichtbar oder unappetitlich

Ein Beispiel perfekter Tarnung sind die Raupen des heimischen Birkenspanners, die kleine Zweige perfekt nachahmen. Sogar die richtige Farbe können sie - ähnlich einem Chamäleon - annehmen. Dafür haben sie Sehzellen in ihrer Außenhülle entwickelt. Sie sehen quasi mit ihrer Haut

Der heimische Segelfalter ahmt als Jungraupe optisch Vogelkot nach. Die Nachahmung von toten Dingen oder Pflanzen zur optischen Verschmelzung mit der Umwelt wird als eine Sonderform der Tarnung auch Mimese genannt. Nach der zweiten Häutung wechselt die Segelfalterraupe zur Farbe Grün und verschmilzt mit ihrer feinen Äderung perfekt mit den Schlehenblättern, von denen sie frisst. Wenn sich diese im Herbst gelb färben, wechselt auch sie in der letzten Raupenphase zu Gelb mit bräunlichen „Vergilbungsflecken“.

Was bei diesem Beispiel ebenfalls sichtbar wird: Raupen verwandeln sich nicht nur am Schluss in einen Falter. Manche Arten verändern auch im Laufe ihrer Häutungen mehrfach Farbe und Form.

Meister der chemischen Waffenarsenale

Die Segelfalterraupe besitzt wie der Schwalbenschwanz und weitere Ritterfalter aber auch eine chemische Waffe. Bei Gefahr stülpen sie eine Nackengabel, ein sogenanntes Osmaterium aus, dessen unangenehmer Geruch Feinden den Appetit verderben soll. Insbesondere Ameisen können damit gut abgewehrt werden. Der Große Gabelschwanz beeindruckt mit einer Drohgebärde, bei der Scheinaugen und ausgestülpte Fortsätze aus einem gegabelten Schwanz eingesetzt werden. Wird die Gebärde ignoriert, kann die Raupe bis zu 30 cm weit Ameisensäure verspritzen. Bei mir wäre das beinahe einmal direkt ins Auge gegangen.

Sehr wenige Raupen setzen Gifthaare als Waffe gegen ihre Fressfeinde ein, wie zum Beispiel die Eichenprozessionsspinner.  Jede Raupe produziert bis zu 600.000 hohle, mit dem Nesselgift Thaumetopoein gefüllte Haare. Sie brechen leicht ab und werden verweht. Einmal auf die Haut gelangt, wirken sie wie kleine Injektionsnadeln und verursachen allergische Hautreaktionen, beim Einatmen in seltenen Fällen sogar Atemnot. Trotzdem ist der Eichenprozessionsspinner letztlich harmlos gegenüber einer im Osten der USA vorkommenden Flanellmotte (Megalopyge opercularis). Der Stich ihrer Brennhaare ist angeblich deutlich schmerzhafter als ein Bienenstich. Dabei sieht sie zum Streicheln putzig aus.

Meister der Täuschung

Andere Raupen betreiben Mimikry und ahmen ein gefährliches Tier nur nach, um Feinde abzuschrecken. Die Raupen des Mittleren Weinschwärmers tragen große Scheinaugen auf der Brust und bewegen sich wie kleine Schlangen über den Boden, wenn sie angegriffen werden.

Die Raupen mancher Arten leben gesellig und beginnen bei Gefahr, synchron zu zucken und ahmen so gemeinsam ein großes Tier nach. Dazu gehören Tagpfauenauge und Kleiner Fuchs.

Besondere Meister der Ameisentäuschung sind einige Bläulingsarten, wie zum Beispiel der Wiesenknopf-Ameisenbläuling. Während die meisten Raupen an die Ameisenbrut verfüttert werden, ist es hier umgekehrt. Seine Raupen lassen sich im vierten Larvenstadium von der Futterpflanze auf den Boden fallen. Sie riechen wie die Larven von Knotenameisen und machen auch die für sie typischen Geräusche. Vorbeilaufende Ameisen lassen sich täuschen und tragen die Raupen in ihren Bau. Anfangs geben sie an die Ameisen Zuckersaft ab, dann tarnen sie sich chemisch, weshalb diese sie nicht töten, obwohl sie sich von der Ameisenbrut ernähren und jede einzelne Raupe bis zu 600 Larven verspeist. Andere Arten wie der Kreuzenzian-Ameisenbläuling lassen sich von Knotenameisen adoptieren und bevorzugt füttern. Letztere meinen aufgrund der Geräusche der Raupe nämlich, es handle sich um die Larve einer Ameisenkönigin.

Fliegende Raupen

Die Weibchen des Schlehen-Bürstenspinners sind flügellos. Sie können ihre vielen Eier also nicht auf genügend geeignete Futterpflanzen verteilen, sondern legen sie jeweils am Ort des Schlüpfens ab. Dafür haben die Raupen das „Fliegen“ für sich entdeckt. Sie sind beim Schlüpfen voller, langer Härchen und lassen sich ähnlich wie die Samen von Pusteblumen vom Wind teilweise kilometerweit vertragen. Wenn sie auf einer geeigneten Pflanze landen, können sie ihre weitere Entwicklung vollziehen. Man nennt diese Eigenschaft einiger Raupenarten auch Ballooning.

Meister der Jagdkunst

In Hawaii leben sogar echte Jäger und Fleischfresser. Die nur 8 Millimeter große Raupe von Hyposmocoma molluscivora fängt kleine Schnecken mit einem Seidenfaden und verspeist diese anschließend. Einige Spannerarten der Gattung Eupithecia auf Hawaii fangen kleine Fliegen, Spinnen oder Grillen und fressen sie lebend.

In manchen Fällen kommt es bei Raupenarten auch zum Kannibalismus, um Nahrungskonkurrenten auszuschalten, zum Beispiel bei den Räupchen des hübschen Aurorafalters.

Leben über und unter Wasser

Am meisten beeindrucken mich aber die wenigen Raupen, welche sich aufs oder sogar unter Wasser wagen. Der heimische Wasserlinsenzünsler frisst, wie der Name schon sagt, Wasserlinsen. Um an seine schwimmende Nahrung zu kommen, basteln sich die Raupen mit Luft gefüllte Köcher aus Pflanzenstücken. Mit ihnen können sie zwischen den Wasserlinsen umherschwimmen und fressen. Noch interessanter ist eine weitere Entdeckung aus Hawaii. Dort wurden mehrere Arten der Schmetterlingsgattung Hyposmocoma gefunden, welche sich sowohl auf dem Land als auch bei Überschwemmungen unter Wasser fertig entwickeln können. Sie haben weder Kiemen noch nutzen sie unter Wasser Luftblasen. Man nimmt an, dass sie Sauerstoff über die Magenschleimhaut aufnehmen können. Einige weitere Raupen heimischer Wasserzünsler der Unterfamilie Acentropinae haben sogar eine Hautatmung oder Tracheenkiemen entwickelt, um erfolgreich unter Wasser leben zu können.

Das größte Wunder von allen

Doch eine Eigenschaft überbietet alle schon genannten Raupenrekorde. Und gleichzeitig besitzt sie jede Raupe. Es ist die Fähigkeit zur Verwandlung in ein äußerlich als auch organisch beinahe komplett anderes Wesen, den Schmetterling. Dabei kann man durchaus behaupten, dass die Raupe eine Art Sterbeprozess durchläuft. Denn spätestens mit der Verpuppung werden Verdauungsenzyme ins Blut freigesetzt und zersetzen die Organe der Raupe fast vollständig zu einer Proteinsuppe. Kleine Zellgruppen, die sogenannten „Imaginal Discs“, bleiben dabei jedoch intakt. Sie haben ähnliche Eigenschaften wie Stammzellen, werden in der Raupe schon während der Embryonalentwicklung innerhalb der Eischale angelegt und verhalten sich während der Raupenentwicklung zum Großteil ruhig. Sie haben den Bauplan für Flügel, Fühler, Beine und Organe des Falters gespeichert und steuern im entscheidenden Augenblick den Aufbau des Falters aus der Nährsuppe verdauter Raupenzellen. Dieser Prozess ist biochemisch so spannend, dass er einen eigenen Artikel verdient.

Die Moral von der Geschicht?

Meine persönliche lautet jedenfalls: “Töten wir unsere Raupen nicht!“ Denn sie bieten anderen Tieren wertvolle Nahrung, halten den Naturkreislauf durch ihre Zersetzungsarbeit am Laufen und werden auch auf empfindlichen Pflanzen meist ganz von allein auf ein unschädliches Maß dezimiert. Sie haben es trotz all ihrer Tricks auch ohne unsere Eingriffe schwer genug, in ausreichender Anzahl zu überleben. Und lassen wir uns auch von der obigen Hitliste der trickreichsten und gefährlichsten Raupen nicht täuschen: Fast alle Raupen sind für den Menschen völlig harmlos. Lediglich die riesigen Monokulturen an Mais, Obst und anderen Nutzpflanzen, mit denen wir manchen Raupen ein unnatürlich großes Festmahl bereiten, machen einige von ihnen zum wirklichen Problem. Vielleicht sollten wir hier aber auch unsere Art, Agrarindustrie statt biologischer Landwirtschaft zu betreiben, überdenken. In unserem Garten und selbst den Gemüsebeeten lassen wir sie jedenfalls gewähren und freuen uns, dass es sie noch gibt: Unsere bunten Raupen „Nimmersatt“.

Schmetterlingsraupen und ihre unglaublichen Fähigkeiten

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